Samstag, 14. Juni 2014

Challenge 52/52: Fangen, Festhalten, Loslassen

Hier ist meine erste Geschichte zur Challenge ''52 Worte - 52 Geschichten''. Das Wort, auf Grundlage dessen ich die Geschichte aufgebaut habe, ist Eiche. Mein Text umfasst stolze 2185 Wörter.

So viel dazu. Ich wollte eigentlich schon etwas früher anfangen, aber irgendwie wollte es einfach nicht klappen. Langsam sammeln sich die Ideen aber zum Glück an. Wird trotzdem keine allzu leichte Aufgabe werden.


Fangen, Festhalten, Loslassen


Lachend rannten die Kinder durcheinander – eines nach rechts, eines nach links, eines versteckte sich hinter dem Stamm eines dicken Baumes, während die restlichen den Hügel hinunter liefen in Richtung des großen Sees, dessen unbewegte Oberfläche den strahlend blauen Himmel widerspiegelte. Selbst aus der Entfernung konnte das Mädchen, das hinter dem Baum hervor lugte, sehen wie das Wasser durch die Sonne schimmerte.
Vögel stimmten über ihr in den Ästen ein fröhliches Lied an, als sie kicherte. Ein Junge hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Da alle anderen davongelaufen waren, stand er jetzt ganz allein vor dem Baum.
Sie hielt sich die kleine Hand vor den Mund, damit er sie nicht hörte. Eine Brise wehte ihr das blonde Haar ins Gesicht und sie blinzelte, ärgerte sich darüber, dass sie nicht gewollt hatte, dass ihre Mutter ihr zwei Zöpfe machte.
Der Junge bewegte sich endlich. Seine Schultern sanken herab und er tat mehrere Schritte Richtung See, blieb aber wieder stehen. Sie musste schon wieder kichern. Dieses Mal hörte er es und drehte sich zu ihr um. Erschrocken presste sie sich die Hand fester auf den Mund, was jetzt aber auch nicht mehr half. Allerdings machte er keine Anstalten zu ihr zu laufen, um sie zu ticken.
Er sah sie bloß an, aus grünen Augen. Sein Haar war braun und kräuselte sich leicht.
Sie kicherte wieder und ließ die Hand sinken. „Du musst mich fangen“, erklärte sie. Er hatte das Spiel offensichtlich nicht verstanden.
„Warum?“, wollte er wissen und ging zwei Schritte in ihre Richtung, wo er erneut stehen blieb.
„Damit du mich ticken kannst. Dann bin ich dran und muss jemand anderen ticken“, erklärte sie weiter und lächelte.
„Dann müsste ich vor dir weglaufen, oder?“ Sie nickte und er kam auf sie zu. Er rannte nicht. Er ging in einem ganz normalem Tempo. Sie hätte wegrennen müssen, doch stattdessen starrte sie ihn mit leicht geöffnetem Mund an und dachte, dass dieser Junge wirklich komisch war.
Und dann dachte sie, dass er wirklich wirklich komisch war, als er, kurz bevor er sie erreicht hatte, seine Richtung leicht änderte und sich in den Rasen setzte, sich mit dem Rücken gegen den Stamm des Baumes lehnend.
„Ich will nicht laufen“, sagte er. „Du auch nicht, oder?“ Jetzt war er es, der lächelte. Nachdem ihre Verwirrung etwas nachgelassen hatte, lächelte sie zurück und legte sich nach kurzem Zögern ins Gras, den blauen Himmel über sich, das Rauschen der Blätter in den Ohren und die lauten Stimmen der anderen Kinder weit weg.

Hand in Hand stiegen sie den Hügel hinauf, der unweit vom See entfernt lag. Ein Baum mit braunem, dickem Stamm und hoch in den Himmel ragenden Ästen stand auf diesem Hügel. Von weitem hatte er einsam gewirkt, fast trostlos, wie er dort ganz allein auf der Anhöhe stand und auf den See hinabblickte. Dass seine Äste nur noch an wenigen Stellen mit dunklen Blättern behangen waren, verstärkte diesen Eindruck noch.
Allerdings wirkte er auf die 16-jährige von Nahem, wo sie erkannte, wie groß er war und wie alt er aufgrund des dicken Stammes bereits sein musste, in erster Linie majestätisch und würdevoll. Es war ein wunderschöner, mächtiger Baum, selbst wo er jetzt im Herbst sein grünes Gewand verloren hatte.
Auch dem Jungen, dessen Hand sie in ihrer hielt, kam der Baum riesig vor und auch ein wenig bedrohlich, wie er seine fast vollkommen nackten Arme in die Luft streckte.
„Es ist wunderschön hier“, sagte sie, während sie an dem Baum hinaufblickte und einzuschätzen versuchte, wie groß er in etwa war, bis sie zu der Erkenntnis kam, dass die tatsächliche Größe keine Rolle spielte. Es genügte, wie er auf sie wirkte.
„Erinnerst du dich, wie wir als Kinder immer hier gespielt haben?“, fragte er und blickte lächelnd zu ihr hinüber. Seine grünen Augen schauten direkt in ihre, was sie leicht verlegen den Blick senken ließ. „Haben wir das?“, kam es ihr leise über die Lippen. „Kennen wir uns schon so lange?“ Sie schaute wieder hoch in die Baumkrone und glaubte sich, wo er es erwähnt hatte, an den See zu erinnern. Ja, an dem See hatte sie als Kind oft gespielt.
„Ich war damals neu in der Stadt“, erzählte er. Sie nickte nur, völlig versunken in ihren Gedanken.
Deshalb schrak sie ein wenig zusammen, als er seine Hand plötzlich aus ihrer löste. Sie wollte schon fragen, was los war, da sah sie, wie er näher an den Stamm des Baumes herantrat und etwas aus seiner Jackentasche zog. Das Laub knisterte unter seinen Füßen und sie schloss den Mund, während sie ihre Hände in die Taschen ihres grauen Mantels schob. Die goldenen Strahlen der Herbstsonne waren wunderschön, aber sie vermochten kaum noch zu wärmen.
„Komm her“, flüsterte er nach einer Weile und mit bedachten Schritten trat sie neben ihn. Eine Hand zog sie wieder aus ihrer Jackentasche und er ergriff sie sofort, hielt sie warm in seiner. Sie atmete ruckartig ein, als sie sah, was er gemacht hatte.
In die Rinde des Holzes hatte er, mit dem Taschenmesser, das er nach wie vor in der Hand hielt, ein Herz geritzt und in diesem Herz standen zwei Buchstaben – ein C und ein D.
„Du bist unglaublich“, stieß sie hervor und wandte ihm mit Tränen in den Augen das Gesicht zu. In der nächsten Sekunde schlang sie die Arme um ihn und es war ihr egal, dass es kitschig war und sie vielleicht übertrieben reagierte. Sie war einfach gerührt von seiner Geste.
Währenddessen drückte er lächelnd sein Gesicht in ihr Haar. „Ich habe es endlich geschafft, dich zu fangen.“

Sich gegen den Stamm des Baumes lehnend setzte sie sich auf das vom Morgentau noch leicht feuchte Gras. Nach einem langen Blick auf den verlassen daliegenden See am Fuße des Hügels und einem tiefen Seufzen schlug sie das Buch auf, das sie in den Händen hielt.
Es war bereits hell, aber die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie das erste Wort las. Es folgten viele, viele weitere Worte und ihre Schultern entspannten sich ein wenig, ihre Atmung wurde entspannter, ihre Gedanken klärten sich, selbst ihr Herz schien sich ein kleines bisschen zu entkrampfen. Mit jedem Satz durchströmte sie Erleichterung.
Doch irgendwann schloss sie das Buch und strich sich eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht. Das widerspenstige Ding hatte sich aus ihrem lockeren Zopf gelöst. Die Hände auf ihr Buch legend atmete sie ein und aus, betrachtete den See und legte nach einer Weile den Kopf in den Nacken. Erste Blättchen sprossen bereits an den Ästen und sie schloss die Augen.
Inzwischen war die Sonne aufgegangen und die Vögel hatten längst ihre Lieder angestimmt. Der Geruch von Frühling lag in der Luft. Aber sie schmeckte bloß die aufkommenden Tränen, die gleich darauf über ihre Wangen liefen.
Mit einem Mal war ihr kalt, denn sie trug bloß einen dünnen Pullover, Jeans und ein Paar Turnschuhe. Die Arme um ihren Oberkörper schlingend versuchte sie, die Fassung zu behalten.
Es hatte keinen Sinn, zusammenzubrechen. Es hatte keinen Sinn, zu zerbrechen. Dadurch würde es nicht besser werden. Als junges Mädchen mochte es einem so vorkommen und da konnten Sprüche wie ''Manchmal muss etwas zerbrechen, damit etwas neues und besseres daraus entstehen kann'' hilfreich und auch zutreffend sein. Aber sie war kein junges Mädchen mehr und es würde nichts neues und besseres entstehen. Es würde überhaupt nichts entstehen.
Ein Schluchzen unterdrückend schlang sie die Arme noch fester um sich und ließ die Hände dann langsam von ihren Armen hinabgleiten, bis sie nicht länger ihren Oberkörper sondern nur noch ihren Bauch umarmte.
Ihr war bewusst, dass sie es akzeptieren musste. Sie hatte gar keine andere Wahl. Es war wie mit diesem Baum, der genau an dieser Stelle gewachsen war und nirgendwo anders. Er konnte nicht woanders hingehen. Er konnte sich nicht von hier wegbewegen und in ihrem Bauch würde sich niemals ein heranwachsendes Leben bewegen.

Der Wind peitschte ihnen ins Gesicht, sodass das kleine Mädchen die große Hand ihres Vaters noch fester umfasste und nach ihrer pinken Mütze griff, damit sie ihr nicht vom Kopf fiel. Ihr Fransenpony schaute unter der Mütze hervor. Der Wind änderte plötzlich seine Richtung und ihre schwarzen Haare, die sie offen trug und die lang und lockig waren, schlugen ihr plötzlich ins Gesicht.
„Daddy“, jammerte sie und er blieb stehen, kniete sich vor ihr hin. „Was ist denn, Kleine?“ Aus vertrauten, grünen Augen blickte er sie liebevoll an und rückte ihr die leicht schiefe Mütze zurecht. „Der Himmel ist so dunkel und mir ist kalt.“
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Jetzt sah er traurig aus. „Es ist nicht mehr weit. Wir sind fast da, nur noch ein paar Schritte“, versprach er und nahm das herunterhänge Ende ihres bunt gemusterten Schals, um ihn ihr noch einmal um den Hals zu wickeln. „Danach fahren wir nach Hause.“
Aus runden, braunen Augen blickte sie ihn an. „Okay.“
Mit einem kleinen Lächeln, aber noch immer einem traurigen Ausdruck in den Augen stieg er gemeinsam mit seiner Tochter das letzte Stück des Hügels hinauf, wo nackt und in dem stürmischen Wind knarrend der Baum stand. Ehrfürchtig hielt er einen Moment inne. Das kleine Mädchen schaute zu ihm hoch und sah anschließend den Baum an. Es war ein dicker Baum, der ohne seine Blätter hässlich war, fand sie. Doch ihr Vater schien ihn wunderschön zu finden.
„Komm, ich will dir was zeigen.“ Fast hätte sie ihn wegen des lauten Windes nicht gehört, aber sie hatte gute Ohren. Neugierig ließ sie sich von ihrem Vater näher an den Stamm heranführen. Er legte seine Hand auf die Rinde.
„Deine Mutter hat mir erzählt, dass sie hierher kam, nachdem sie erfahren hat, dass sie nie ein eigenes Kind haben wird“, erklärte er und lächelte leicht. Dabei wirkte er weit, weit weg, als hätte er sich in seinen Gedanken verloren und das hätte er vielleicht, wenn nicht dieses kleine Mädchen neben ihm gestanden hätte.
„Aber Mommy hat doch ein Kind bekommen“, widersprach die Schwarzhaarige. Sie sagte es trotzig, als wäre es eine ganz gemeine Lüge zu behaupten, ihre Mutter würde kein Kind haben können.
Er kniete sich erneut runter zu seiner Tochter und legte eine Hand an ihre Wange. Sanft sagte er ihr: „Das stimmt. Wir haben dich bekommen. Wir haben dich adoptiert, als du noch sehr klein warst. Das weißt du doch.“
Sie nickte kräftig. „Ich weiß, dass ich nicht aus Mommys Bauch gekommen bin. Aber sie hat gesagt, dass da ein Kind in ihrem Bauch war.“
Die nächsten Worte wählte er mit Bedacht: „Da war ein Kind in Mommys Bauch, aber das Kind ist tot, genauso wie Mommy.“
Die Augen des kleinen Mädchens füllten sich mit Tränen und er nahm seine Tochter in die Arme, drückte sie an seine Brust, gab ihr Wärme und Liebe und weinte mit ihr. Der Wind wurde immer kräftiger, zerrte immer stärker und stärker an ihnen.
„Mommy wird immer bei uns sein, in unseren Herzen“, sagte er der Kleinen, sobald er wieder sprechen konnte und sie sich die Tränen aus den Augen wischte. Nickend schniefte sie und er nahm sie unter den Armen und hob sie hoch, deutete auf das in den Baum geritzte Herz mit den zwei Buchstaben.
„Clare und Dane“, sagte das schwarzhaarige Mädchen. Ihr Vater war überrascht, dass sie verstand, wofür die Buchstaben standen. Seine Tochter wandte ihm den Kopf zu. „Der Baum wird auch immer bei Mommy sein.“ Dem Vierzigjährigen traten erneut die Tränen in die Augen bei dem festen, glaubhaften Ton in der Stimme seiner Tochter.
„Ja“, brachte er hervor. „Der Baum wird auch immer bei Mommy sein. Das ist nämlich eine Eiche. Weißt du, was das bedeutet?“ Er setzte das kleine Mädchen wieder auf ihre eigenen Füße und griff ihre Hand. Mit langsamen Schritten entfernten sie sich von dem Baum.
„Nein. Was bedeutet eine Eiche?“, wollte sie wissen und sie legten immer mehr Entfernung zwischen sich und den Baum, stiegen jetzt bereits den Hügel hinunter.
„Die Eiche steht für Unsterblichkeit. Das heißt, dass Mommy für immer in unseren Herzen bei uns ist.“
Das kleine Mädchen fasste sich an die Brust und schaute noch einmal zurück zu der Eiche. Dann lächelte sie und als es zu regnen begann, dachte sie daran, dass sie auch unsterblich sein wollte, wenn sie tot war, wie ihre Mommy. Sie würden zusammen unsterblich sein. Das war ein schöner Gedanke.
Während der Regen Vater und Tochter durchnässte und die Eiche in immer weitere Ferne rückte, hatte auch er schöne Gedanken. Zum ersten Mal, seit seine Frau gestorben war, hatte er schöne Gedanken, die sich auch schön anfühlten. Zum ersten Mal war seine schier endlose Traurigkeit durchbrochen worden und er glaubte an seine eigenen Worte. Aber noch viel mehr glaubte er an die Worte seiner Tochter. Seine Clare würde immer bei der Eiche sein.
Dort würde er sie immer finden können, wie unerreichbar sie auch zu sein schien, denn so war es immer mit Clare und ihm gewesen: Selbst wenn sie voreinander weggelaufen waren, hatten sie sich letztendlich fangen lassen und das Weglaufen aufgegeben, um sich stattdessen unter die Eiche zu setzen und der Ruhe nach dem Sturm zu lauschen.

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