Mittwoch, 18. März 2015

52/52 Challenge: „Und du wirst dann auch ein Engel?“

Und hier ist Nr. 12. :)
Wünsch euch viel Spaß beim Lesen.

Wort: Engel
Wörter: 934

"Und du wirst dann auch ein Engel?"

Sie starrte an die weiße Decke des Krankenhauszimmers. Reglos lag sie da. Auf dem Flur hörte sie Schritte. Rechts von sich spürte sie wie eine schwache Brise, die durch das offene Fenster kam, über ihren nackten Arm strich. Unter ihren Händen fühlte sie den Stoff der Bettwäsche.
Als sie die Augen schloss, versuchte sie sich vorzustellen, dass sie woanders war. Zuhause vielleicht. Aber Zuhause waren selten Schritte auf dem Flur zu hören gewesen und vor allem hatte es Zuhause nicht nach Desinfektionsmitteln gerochen. Zuhause hatte sich das Fenster nicht direkt neben ihrem Bett befunden.
Sie schlug die Augen wieder auf und drehte sich auf die Seite, um aus dem Fenster schauen zu können. Die Nadel, die in ihrem Handrücken steckte, drückte dabei unangenehm, aber sie war dieses Gefühl gewohnt und blendete es einfach aus.
Der Himmel draußen war babyblau und keine einzige Wolke war zu sehen. Sonnenlicht fiel durch das Fenster und zeichnete Schatten auf den Boden des Krankenzimmers. Von ihrem Bett aus konnte sie ihn nicht sehen, aber sie wusste, dass schräg vor dem Fenster ein großer Baum stand. Sie konnte seine Blätter im Wind rascheln hören. Es war Sommer, ihre liebste Jahreszeit. Sie hatte gerne Shorts getragen oder auch mal ein Kleid oder einen Minirock und das alles in den verschiedensten Farben. Knallbonbon hatten ihre Freunde sie immer genannt.
Ein schwaches Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie vermisste ihre Freunde. Klar waren sie zu Besuch gekommen und sie würden sicherlich auch nochmal kommen und sie konnte mit ihnen schreiben. Aber da war eine Distanz, die weder sie selbst noch ihre Freunde jemals würden überschreiten können. Als würden sie in unterschiedlichen Welten leben. Und das taten sie. Sie lebte in einer ganz anderen Welt, als ihre Freunde. Bei ihren Freunden ging es um Klausuren schreiben und wer gerade mit wem Streit hatte und wer wem zugelächelt hatte. Bei ihr ging es um den Krebs, der innerhalb weniger Wochen ihren ganzen Körper befallen hatte.
Plötzlich war ihr kalt und sie zog mühevoll die Bettdecke über ihre Schulter, zog die Beine an und drückte die Arme an ihre Brust. Ihr war nicht nach weinen zu mute, an diesem Punkt nicht mehr. Zu Anfang hatte sie viel geweint. Aber inzwischen nahm sie die Welt um sich herum kaum noch als die Welt wahr, in der sie lebte. Lange würde sie das wohl auch tatsächlich nicht mehr tun – Leben, Atmen, Denken.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie leicht zusammenzucken. „Ja, herein?“, rief sie. Ihre Stimme klang furchtbar dünn. Früher hatte sie nicht so geklungen, auch wenn sie sich nicht mehr genau daran erinnern konnte, wie sie eigentlich geklungen hatte. Man achtete nicht unbedingt darauf, wie die eigene Stimme klang. Als am Leben teilnehmende Person hatte man anderes zu tun.
Schnelle, kleine Schritte waren zu hören. „Hallo, Timira!“ Das kleine Mädchen, das vor ihr auftauchte, strahlte übers ganze Gesicht. Es war ihr unverkennbar anzusehen, wie sehr sie sich freute, ihre große Schwester zu besuchen.
„Hey, Kleine“, lächelte Timira und versuchte ihr Lächeln so echt aussehen zu lassen, wie möglich. Doch bei ihrer kleinen Schwester war es nicht schwer. Sie schaffte es, diesen letzten Funken Lebensfreude aus Timira herauszukitzeln. Vielleicht weil sie selbst so voller Leben war.
Nach drei Versuchen schaffte es das kleine Mädchen zu ihrer großen Schwester aufs Bett zu klettern. „Mama redet noch mit der Frau im weißen Kittel“, erklärte sie und strich sich mit dem Handrücken ein paar Haare aus dem Gesicht.
„Die sind ganz schön gewachsen“, stellte Timira fest. Sie hatte sich aufgesetzt und betrachtete ihre jüngere Schwester lächelnd. Die Kleine schaute kurz ihre Haare an, dann krabbelte sie zu Timira und kuschelte sich an ihre Seite. Mit einem Mal sah das Gesicht des kleinen Mädchens sehr traurig aus. Jeden Moment würde sie weinen und Timira würde damit hoffnungslos überfordert sein und-
„Kannst du den Engeln nicht sagen, dass du hier bleiben willst?“, fragte sie mit kindlicher Unschuld und Trotz in der Stimme.
„Was für Engeln? Wovon sprichst du?“, fragte Timira verwirrt, während sie ihrer kleinen Schwester behutsam übers Haar strich.
„Die Engel, zu denen du bald gehen musst. Mama hat mir davon erzählt. Ich will aber, dass du hier bleibst. Ich brauche dich doch noch.“ Aus großen, glänzenden Augen blickte die Kleine zu ihrer großen Schwester hoch.
Überrascht stellte Timira fest, dass auch ihr Tränen in die Augen traten. Sie atmete tief durch und versuchte weiter zu lächeln. „Ich würde auch gerne bleiben. Ich würde unheimlich gerne bleiben. Aber weißt du, die Engel brauchen mich noch mehr als du. Sie sind nicht so stark wie du.“
„Dann komme ich eben mit“, meinte die jüngere Schwester und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Gesichtsausdruck und ihre Tonlage ließen eindeutig erkennen, wie wild entschlossen sie war.
„Das geh leider nicht, Kleine. Du musst doch für mich auf Mama und Papa aufpassen“, erklärte Timira, legte die Arme um ihre kleine Schwester und drückte sie an sich. Das Kinn legte sie auf dem Kopf der Kleinen ab.
„Okay“, flüsterte die Jüngere der beiden Schwestern. „Und die Engel werden lieb zu dir sein?“
„Ja, das werden sie.“
„Und du wirst dann auch ein Engel?“
„Ja, ich werde dann auch ein Engel.“
„Okay.“ Die Kleine schien beruhigt und lächelte sogar leicht, während sie ebenfalls ihre kleinen Arme um ihre große Schwester legte und sie drückte.
Eine Träne stahl sich aus Timiras Augenwinkel. Schnell wischte sie sich übers Gesicht und atmete tief den Gesicht des Shampoos ihrer kleinen Schwester ein. Engel. Wie absurd. Wie blödsinnig und albern. Aber es war eine wirklich schöne Vorstellung.

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