Sonntag, 12. April 2015

52/52 Challenge: Glücksillusion

Und Nr. 15. :)
Viel Spaß beim Lesen.

Wort: Luxus
Wörter: 1305

Glücksillusion

Ihr Blick veränderte sich nicht, als sie durch die große Wohnungstür in den großen Eingangsbereich der Wohnung trat. Die Wohnung war offen gestaltet, sie konnte bis in die Küche und das Wohnzimmer sehen. Einzig Bad und Schlafzimmer schienen separat zu sein. Überall sah sie Goldverzierungen und alles schien teuer und wertvoll, die Möbel zu kostbar, um sie zu nutzen. Es wirkte, als wäre alles bloß Dekoration.
Selbst der Mantel, der sicherlich aus reinster Wolle war, wurde zu Dekoration, als ihr Vater, dem diese riesige Wohnung mit samt ihrer prunkvollen Einrichtung gehörte, ihn an den Harken der Gaderobe hängte. Sogar ihr Vater selber schien bloß Dekoration zu sein, als er vor sie trat. Einzig sein fragender und leicht unsicherer Blick ließ ihn menschlich und echt aussehen.
Er konnte ihr noch solange ins Gesicht sehen, er würde nichts finden. Sie war nicht beeindruckt von diesem ganzen Protz und sie würde ganz sicher nicht sagen, dass er schön lebte. Es war nicht schön, es war künstlich.
Sie zog die Schultern an. Hier würde sie sich nicht wohlfühlen, niemals. Aber sie hatte selber Schuld, dass sie ihre Sachen aus den Augen verloren und dadurch komplett verloren hatte.
„Willst du einen Tee oder einen Kaffee?“, fragte ihr Vater. Sie schüttelte mit dem Kopf. „Etwas anderes?“
„Ich will gar nichts. Ich will hier nur schlafen. Auf der Couch“, sagte sie direkt.
„Du brauchst nicht auf der Couch zu schlafen. Ich stelle dir gerne mein Bett zur Verfügung. Nach allem, was du eben erzählt hast...“, widersprach er hastig.
Sie verdrehte die Augen. „Das ist nicht nötig.“ Langsam begann sie sich durch die Wohnung zu bewegen. Sie schaute sich alles an, als würde sie es sich einprägen wollen. Ihr Vater konnte nur hilflos dastehen und zu schauen, denn er kannte dieses Mädchen nicht. Er hatte sie eben erst getroffen, hatte eben erst erfahren, dass er ihr Vater war.
Bei der großen Couch im offenen Wohnbereich blieb sie schließlich stehen und drehte sich zu ihm um. „Willst du mich gar nichts fragen?“ Die Andeutung eines Lächelns lag auf ihren Lippen. Er war überrascht und sprachlos, natürlich war er das. Es gefiel ihr, einen Mann wie ihn überfordert und machtlos zu wissen. Vielleicht hätte sie nach ihm suchen sollen. Stattdessen hatte sie sich selbst vorgemacht, dass sie nur zufällig in der Stadt als Obdachlose leben wollte, in der ihr leiblicher Vater lebte. Letztendlich ging es bei allem wohl nur um ihn. Dabei ging es eigentlich um so viel mehr, um so viel grundlegendere Dinge. Nicht grundlegender, tiefergehender. Gesellschaftliche Dinge.
„Ich will dich ganz viel fragen, Maddison“, sagte ihr Vater und ließ sich seufzend auf der Couch nieder. Er fuhr sich durch die Haare und schien geradezu verzweifelt. Sie stand bloß daneben und blickte auf ihn hinab, noch immer leicht lächelnd.
Sie war nicht schadenfroh. Sie war selbst mit der Situation überfordert. Das hatte nicht passieren sollen, nicht heute, niemals. Aber genau das war es, was sie in dem Leben auf der Straße gesucht hatte – die Freiheit für Spontanität und Spontanität bedeutete nunmal sich Hals über Kopf in unvorhersehbare Situationen zu stürzen. Früher hätte sie das nie gemacht, in ihrem alten Leben, bevor sie entschieden hatte, auf der Straße zu leben. Doch jetzt war es ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen, was sie vorher gar nicht gemerkt hatte. Als sie in ihren Vater hineingelaufen war und ihn mit Schrecken erkannt hatte, war sie einfach in Tränen ausgebrochen und hatte ihm alles erzählt. Ihr altes Ich wäre davongelaufen.
Spontanität zu leben, bedeutete aber nicht gleich, mit den Folgen dessen auch umgehen zu können. Auf ihn mochte es wirken, als wäre sie gelassen, ja sogar gefühlskalt. Doch in ihr herrschte ebenfalls Chaos, auch wenn sie es hinter eine Tür gesperrt hatte. Es war schon lange hinter dieser Tür, das ganze Chaos ihren leiblichen Vater betreffend. Es war dabei hervorzubrechen. Das war es wohl schon die ganze Zeit. Warum sonst hätte sie in diese Stadt kommen sollen? Es war wegen ihrem leiblichen Vater, das musste sie sich jetzt endlich eingestehen.
„Bevor du mir deine Fragen stellst, darf ich dich was fragen?“ Sie sagte das vor allem, um das drückende Schweigen zu durchbrechen.
„Natürlich. Frag nur“, erwiderte er und klang erleichtert. Ihm hatte das Schweigen wohl auch zu schaffen gemacht. „Komm, setz dich doch zu mir.“
Sie ignorierte seine Aufforderung und wandte sich stattdessen von ihm ab und setzte sich auf den Fußboden, den Blick auf den großen Flachbildfernseher gerichtet. Er stand auf einer Anrichte, in der sich die neusten Konsolen befanden. Rechts und links neben dem Fernseher waren zwei Regale gefüllt mit DVDs und Spielen für die Konsolen.
„Wofür ist das alles?“, fragte sie. Bevor er antworten konnte, sprach sie schon weiter: „Wofür brauchst du das alles? Bei dem Job, den du hast, um diese Wohnung und alles, was dazugehört, nicht zu vergessen deinen Lifestyle zu finanzieren, wirst du kaum Zeit haben, um all diese Filme zu schauen und all diese Spiele zu spielen.“
Stille antwortete auf ihre Worte. Was sollte man darauf auch sagen?
Also sprach sie weiter: „Du hast sie bloß, um sie zu haben. Alles in dieser Wohnung hast du nur, um es zu haben. Okay, mal abgesehen von Lebensmitteln und Verbrauchssachen wie Klopapier. Aber alles andere hast du bloß von deinem fetten Einkommen gekauft, weil du es kannst. Und dabei bist du nicht einmal glücklich mit deinem Job und überhaupt mit deinem Leben.“
Wieder Stille. Doch dann: „Woher willst du das wissen? Du kennst mich nicht, Maddison.“
Sie lächelte leicht und drehte sich zu ihm um. „Ich muss dich nicht kennen, um das zu wissen. Die meisten Menschen denken so. Unsere Gesellschaft denkt so“, erklärte sie. „Es ist traurig, nicht? Wir könnten so viel tun, so viel gutes, so viel schönes, so viel aufregendes und stattdessen lernen wir, um dann einen Job zu machen, der uns viel Geld bringt, von dem wir uns viel unnützen Kram kaufen.“ Sie gab einen freudlosen Laut von sich und schaute auf ihre Hände.
„Und du denkst, das Leben auf der Straße ist besser?“, wollte ihr Vater wissen.
„Ja. Ja, in gewisser Weise ist es besser. Es ist nicht perfekt und schon gar nicht die perfekte Lösung, ganz bestimmt nicht. Aber es ist freier. Ich bin nur mir selbst verpflichtet und muss für alles selbst sorgen. Ich kann tun, was ich will, weil ich nur mir selbst Rechenschaft schuldig bin. Für mich spielt es keine Rolle, was die Gesellschaft denkt und will“, meinte sie und Enthusiasmus, Lebensfreude schwang in ihrer Stimme mit und war auch an dem Leuchten in ihrem Gesicht zu sehen. Doch sobald sie zu Ende gesprochen hatte, verblasste beides.
„Du, alle anderen, ihr lebt eine Lüge. Ihr erschafft euch diese Illusionen von Glück, die nur ein billiger Abklatsch von echtem Glück sind. Und ihr wisst das sogar! Ihr wisst es und lasst euch trotzdem davon einlullen.“ Wut und Traurigkeit ließen sie den Blick erneut auf ihre Hände senken.
„Aber du bist auch nicht glücklich“, stellte er fest.
„Nein, natürlich nicht!“, stieß sie hervor und jetzt war sie wirklich wütend, zornig. „Wie könnte ich? Wie könnte ich glücklich sein, als jemand, der versucht ohne Luxus zu leben, wenn ich dabei ständig von Luxus umgeben bin? Ich versuche dagegen anzukämpfen. Ich versuche mein Bestes und doch ist es nicht genug. Es ist nicht genug. Es wird niemals genug sein.“ Sie schluchzte fast und presste sich eine Hand auf den Mund, aber es war schon zu spät. Wieder rannen ihr Tränen, die sie nicht aufhalten konnte, über die Wangen.
Starr saß sie da, bis sie in ihrem Rücken Bewegung vernahm. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass ihr Vater sich zu ihr setzte. Sie saßen einfach nur da und schauten auf den ausgeschalteten Flachbildfernseher.

„Vielleicht kann man in dieser Gesellschaft nie wahrhaftig und vollkommen glücklich sein.“

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