Sonntag, 17. Mai 2015

52/52 Challenge: Buchstabensuppe

Noch so eine Kurzgeschichte, die irgendwie anders geworden ist, als ich wollte. Aber auf eine gute Weise dieses Mal?
Keine Ahnung, beurteilt selbst. ;D

Wort: Buch
Wörter: 1052

Buchstabensuppe

Mein Leben war alles andere als schön. Sicher hatten es einige um einiges schlechter, aber schöner wurde mein Leben dadurch trotzdem nicht. Ich will auch gar nicht meckern, eigentlich zumindest. Es gab ja auch schöne Momente, sehr schöne Momente sogar.
Die Nachbarin, deren Wohnung sich auf der gleichen Etage wie die meiner Familie befand, schenkte mir immer Bücher und wenn ich nach der Schule nach Hause kam und mir niemand die Tür aufmachte, durfte ich bei ihr rein und das im Fernsehen schauen, was ich schauen wollte. Aber nur, bis mein älterer Bruder nach Hause kam.
Er war schon 20, ganze zehn Jahre älter als ich. Er arbeitete immer sehr lange, weil Mama das nicht mehr konnte und Papa nicht mehr da war.
Ich sollte aber nicht die ganze Zeit nur fernsehen, meinte die Nachbarin. Sonst würde nichts aus mir werden, sagte sie. Das war, als ich vier war und noch nicht in die Schule ging. Es ist eine meiner ersten richtigen Erinnerungen. Eine Woche nachdem sie das gesagt hatte, wurde ich schon fünf. Ich war wieder bei ihr, weil Mama zu schwach war, um zur Tür zu gehen. Sie war sehr krank. Aber ich wusste ja, wo ich hin konnte.
Die Nachbarin wusste, dass ich Geburtstag habe und nahm mich ganz fest in den Arm. Sie sagte, dass sie eine Überraschung für mich hat und führte mich in die kleine Küche. Auf dem Tisch stand ein kleiner Kuchen mit fünf Kerzen drin und ein großes Paket lag auf dem Tisch. Es war eigentlich gar nicht so groß, aber damals kam es mir sehr groß vor.
Ich blies freudig die Kerzen aus, bedanke mich ganz oft und aß brav erst ein Stück von dem Kuchen. Ich war gut erzogen worden. Das Geschenk war nicht das Wichtigste. Trotzdem konnte ich beim Essen nicht aufhören, es anzustarren. Ich wollte so gerne wissen, was sich unter dem Papier verbarg.
Die Nachbarin lachte und sagte, ich dürfte es jetzt aufmachen. Begeistert nahm ich es an mich, bemühte mich aber die Klebestreifen ganz vorsichtig zu lösen. Das Papier durfte man ja nicht kaputt machen. Als ich das endlich geschafft hatte und der Inhalt des Geschenks zum Vorschein kam, machte ich große Augen.
„Ein Buch“, sagte ich erstaunt.
„Nicht ein Buch, dein Buch“, lächelte die Nachbarin.
„Aber ich kann doch gar nicht lesen“, meinte ich und war enttäuscht. Was sollte ich denn mit einem Buch? Es standen ganz viele im Regal meiner Mutter und ich kannte natürlich Bilderbücher aus dem Kindergarten. Aber das Buch in meinen Händen war so dick und schwer und der Einband war nicht bunt. Ich wusste, dass das kein Bilderbuch war.
„Du meinst, du kannst noch nicht lesen“, korrigierte die Nachbarin mich.
„Aber es dauert doch noch so lange, bis ich in die Schule komme und es lerne.“ Missmutig schaute ich das Buch an. Jetzt wusste ich zwar, was sich unter dem Papier verborgen hatte, aber das eigentliche Geschenk kannte ich trotzdem nicht, weil ich nicht lesen konnte. Noch nicht. Noch nicht?
Mit leuchtenden Augen blickte ich die Nachbarin an. „Du wirst es mir beibringen, das Lesen?“
Sie nickte lächelnd. „Ja.“
Von da an ging ich nach dem Kindergarten immer direkt zu ihr. Meine Mutter und mein Bruder wussten Bescheid. Am Anfang war es nicht so toll. Lesen war gar nicht so leicht, dabei kannte ich sogar schon ein paar Buchstaben und Wörter aus dem Kindergarten.
Doch schon am dritten Tag rannte ich die Treppen nach oben, nachdem die Mutter meiner Freundin mich vor dem Mehrfamilienhaus abgesetzt hatte. Ich konnte es kaum erwarten, neue Buchstaben, neue Worte zu lernen. Ich wollte endlich die ganzen Sätze in meinem Buch kennenlernen.
Eines Tages war es dann soweit. Es war kurz vor meiner Einschulung. Ich war jetzt schon sechs Jahre alt. Zum Geburtstag hatte die Nachbarin mir noch ein Buch geschenkt. Nicht ein Buch, es war jetzt mein Buch. Es war nicht so dick, wie das Große, mit dem wir übten, aber es war doch ziemlich dick und nur gefüllt mir Worten, ganz vielen, kleinen Worten.
Aber inzwischen liebte ich diese Worte. Jetzt, wo ich sie kannte, gehörten sie alle mir. Es waren jetzt meine Worte.
Als ich an jenem Tag kurz vor meiner Einschulung zu der Nachbarin ging, sagte sie mir, dass sie mich heute nicht unterrichten konnten. Ich war verwirrt und traurig, doch dann sagte sie, dass ich von jetzt an selber lernen sollte. „Versuche das Buch zu lesen“, sagte sie. „Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz, Seite für Seite.“
Voller Begeisterung riss ich die Augen auf, sah das Buch an, sah die Nachbarin an und konnte zuerst gar nicht glauben, dass sie das ernst meinte. Doch sie sagte, ich wäre soweit. Also setzte ich mich hin und begann zu lesen.
Wie am Anfang das Lernen der Buchstaben und Wörter, war auch das Lesen am Anfang sehr schwer und ich wollte schon nach drei Sätzen aufgeben, weil ich die Sätze irgendwie falsch las, denn sie klangen doof und bei der Nachbarin hatten sie immer so schön geklungen.
Doch ich wollte nicht aufgeben. Ich wollte wissen, was dieses Geschenk war. Ich wollte den Inhalt, das Geheimnis dieses Buches erforschen.
Es dauerte nicht lange, da merkte ich gar nicht mehr, wie die Zeit verstrich. Oft waren die Sätze zwar etwas komisch, manchmal einfach weil sie sehr lang waren und ich verstand nicht alles, aber ich mochte die Buchstabensuppe auf den Seiten. Ich mochte den Klang der einzelnen Wörter. Ich mochte, wie alles sich irgendwie zusammenfügte und einen Sinn ergab, dabei waren es eigentlich nur Buchstaben.
Von da an las ich jeden Tag, oft sogar heimlich in der Nacht oder ich stand extra früher auf, um noch vor dem Kindergarten und später vor der Schule lesen zu können. Für dieses erste Buch brauchte ich sehr lange, aber ich war sehr stolz, als ich es durchgelesen hatte. Ich hatte lesen gelernt. Ich konnte jetzt lesen. Und Lesen war ein bisschen wie Magie. Ich hatte Magie gelernt.
Ich liebte es, das Lesen, die Magie, die Buchstabensuppe. Es war so aufregend und nie gleich. Obwohl die Wörter oft die Gleichen waren, war es jedes Mal anders. Andere Welten, andere Leben, andere Abenteuer.
Es war ein unendliches Meer aus Worten, zusammengesetzt aus Buchstaben. Buchstabensuppe und Wortenmeer. Ich würde nie mehr aufhören, darin zu schwimmen.

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