Samstag, 9. Mai 2015

52/52 Challenge: Die Lebensworte des Weltenerschaffers

Und die Nr. 26.
Viel Spaß beim Lesen. :D

Wort: Gott
Wörter: 777

Die Lebensworte des Weltenerschaffers

Als die Welt noch nicht erschaffen war, ging ein junger Mann, fast noch ein Kind, über einen weißen Flur. Er klopfte an eine weiße Tür und betrat nach kurzem Warten den dahinterliegenden weißen Raum.
Es war niemand in dem Raum. Er war leer, so wie alles leer war. Nein, nicht leer. Weiß war nicht leer und steril. Weiß war leuchtend, einladend. Und Leere verlangte danach gefüllt zu werden.
Der junge Mann hob eine Hand zu seinem Ohr und nahm den Stift, den er dort deponiert hatte. Er fühlte sich leicht an zwischen seinen Fingern, beinahe vergänglich, ein unbedeutendes Werkzeug. Aber das Werkzeug war genauso wichtig, wie das Ergebnis.
Er löste die Klappe von der Vorderseite des Stiftes und befestigte sie an der Rückseite, um sie nicht zu verlieren. Doch wie er sich so in dem leeren, weißen Raum umsah und an den leeren, weißen Flur dachte, glaubte er nicht, dass er die Kappe jemals brauchen würde. Denn er würde den Stift nicht eher wieder schließen, bis er fertig war.
Er brauchte einen Moment, um zu entscheiden, wo er beginnen wollte. Die Mitte? Der Rand? Schließlich wählte er etwas dazwischen, weder Mitte noch Rand, etwas irgendwo dazwischen.
Wieder stand er einen Moment bloß da, an der großen leeren, weißen Wand. Er starrte sie an, als würde sie ein Geheimnis kennen, das er erst noch entschlüsseln musste. Dabei war es genau andersherum. Er kannte ein Geheimnis, das die Wand entschlüsseln würde.
Lächelnd setzte er den Stift an und schrieb die ersten Worte. Schwarze, gleichmäßige Buchstaben begannen die Wand zu bedecken. So langweilig und nichtssagend sie auf den ersten Blick erschienen, umso geschwungener und bunter war ihr Inhalt. Es waren aufregende Worte, die von Unperfektheit und Fehlern, von Schmerz und Freude, von Licht und Dunkelheit und allem dazwischen erzählten. Lebensworte.
Mit jedem Strich hauchte er der Wand mehr und mehr Leben ein. Schon nach einer kleinen Weile schien sie zu tanzen, sie singen, zu lachen, zu weinen. Mit jedem Buchstaben wurde sie schöner. Schon nach wenigen Minuten war sie so schön, dass sie eigentlich nicht mehr schöner werden konnte und doch wurde sie es, immer schöner und schöner. Mit jedem Wort wuchs der Raum. Es dauerte nicht lange, da dehnte er sich bereits in Endlose aus und nichts würde ihn aufhalten können.
All das erschuf er – Leben, Schönheit, Unendlichkeit. Er erschuf es allein aus weißer Leere und Worten.
Lächelnd schrieb und schrieb er und selbst als er dachte, er hätte keine Worte mehr, es wären keine mehr übrig, schrieb er weiter und weiter und es wurden immer mehr und mehr Worte. Der Raum, den er erschuf, wurde größer und größer. Es war nicht bloß ein Raum. Es war eine eigene Welt. Er erschuf eine ganz eigene Welt. Aus dem weißen, leeren Raum, den er vorgefunden hatte, machte er etwas, dass lebendiger, schöner und größer nicht sein könnte.
Mit vielen Räumen schon hatte er das gemacht und es würden noch viele folgen. Manchmal waren sie kleiner, manchmal größer. Doch die Größe des Raumes selbst spielte keine Rolle, denn selbst aus dem kleinsten Raum, einem Fitzelchen weißen, leeren Papiers würde er ein ganzes Universum schaffen können.
Es bedurfte nur einem einzigen Strich, um Leben zu erschaffen, um der Leere Atem einzuhauchen, sie zu füllen.
Er lächelte noch strahlender, soweit das möglich war, als der Raum bis an den Rand mit Worten gefüllt war. Ob er schon fertig war, wusste er nicht. Das konnte man nie wissen. Vielleicht würde er wiederkommen und etwas ändern oder hinzufügen. Man konnte es nie wissen.
Deshalb ließ er die Tür offen, als er ging. Wenn er das Bedürfnis verspüren sollte, würde er zurückkommen. Schon allein, um zu sehen, was aus seiner Welt geworden war, würde er zurückkommen.
Doch vorher warteten noch viele, viele andere weiße, leere Räume darauf, von ihm gefüllt und belebt zu werden. Niemals würde er damit aufhören. Das könnte er nicht. Eher würde er sterben. Eher würde er an seinen eigenen Worten und ihrer Unendlichkeit ersticken.
Welten zu erschaffen, das war sein Leben. Nichts anderes konnte er sich vorstellen. Nichts anderes würde er je tun. Das war sein Schicksal, der Sinn seiner Existenz. Und wer würde sich ohne ihn um all diese Welten kümmern? Was würde ohne ihn aus all den noch nicht existierenden Welten passieren? Und wer wäre er, ohne diese Welten?
Er wäre nichts. Sie waren nichts. Sie brauchten einander, seine Welten und er. Sie brauchten einander, um zu leben.
Bei dem nächsten leeren, weißen Raum, den er betrat, brauchte er nicht zu überlegen. Er fing einfach an. Manchmal war es leicht, manchmal war es schwer. Doch eines war es immer und zwar schön. Nichts war schöner, als Leben zu schenken.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen