Mittwoch, 13. Mai 2015

52/52 Challenge: Frei für einen Tag

Die Nr. 28.
Ich schreibe momentan an 32. :D

Wort: Blau
Wörter: 841

Frei für einen Tag

Ich träumte, ich wäre ein Vogel.
Ich weiß nicht, was für ein Vogel ich wäre. Aber das war auch egal. Hauptsache ich hatte Flügel und konnte fliegen. Und das konnte ich. In meinem Traum konnte ich fliegen.
Ich breitete die Flügel aus, lief los und vom nächsten Windstoß wurde ich in die Lüfte gehoben. Gleichmäßig schlug ich mit meinen Flügeln. Auf und ab, auf und ab, auf und ab. Der Wind fühlte sich gut an. Er war nicht zu stark und nicht zu schwach. Ich spürte ihn unter meinen Flügeln und in meinem Gesicht. Oben in der Luft schmeckte er besser, als unten auf der Erde.
Ich flog über die Stadt hinweg. Die Häuser waren zuerst noch groß, doch je höher ich flog, umso kleiner wurden sie und die Menschen, die Menschen konnte ich schon sehr früh kaum noch erkennen. Sie waren ganz klein und völlig unbedeutend. Ich war auch unbedeutend. Als einzelner Vogel bedeutete ich nichts. Aber das spielte auch keine Rolle. Ich war frei.
Ich flog und flog, immer weiter und weiter. Ich wollte nicht anhalten, wollte nicht landen. Die Stadt unter mir wich weiten Feldern, Wiesen und Wäldern. In einiger Entfernung konnte ich auch einen See erkennen. Von oben wirkte alles ganz anders, kleiner, aber auch viel schöner. Es war grün und lebendig, wogte im Wind und ich, ich war ein Teil davon.
Ich ging in den Sinkflug und flog ganz dicht über das hochgewachsenem Gras hinweg. Es kitzelte mich am Bauch und an den Füßen. Ein Stacheldrahtzaun tauchte vor mir auf, aber ich flog einfach über ihn hinweg. Der Zaun störte mich nicht. Er konnte mich nicht aufhalten. Ich war frei.
Ich flog durch den Wald, Slalom um die Bäume herum. In einer Baumkrone machte ich eine Pause. Hoch oben saß ich in dem Baum, ein kleiner Vogel, einer von vielen und es war mir egal. Ich war frei.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf diesem Ast hoch oben in diesem Baum saß und das Leben unter mir und um mich herum betrachtete. Zeit war unbedeutend für mich.
Irgendwann erhob ich mich wieder in die Lüfte, weil ich es konnte, weil es toll war. Ich schlug mit meinen Flügeln und fühlte wieder den Wind, fühlte das Leben. Es gab nichts Schöneres als zu fliegen. Es war uneingeschränkt, unbeherrscht, über allem stehend. Doch gleichzeitig verlieh es einem keine Macht, zumindest einen Vogel machte es dadurch nicht mächtig. Was waren Vögel schon? Tiere. Es waren nur Tiere. Tiere, die fliegen konnten, aber nur Tiere. Fische waren schließlich auch nicht mächtig, bloß weil sie unter Wasser atmen konnten.
Um Macht ging es auch gar nicht. Wer wollte schon Macht, wenn er Freiheit haben konnte? Ich würde die Freiheit jederzeit der Macht vorziehen. Das Einzige, wozu ich Macht nutzen würde, wäre, um alle frei zu machen. Frei vom Druck der Gesellschaft, frei von Sorgen und Ängsten und Verzweiflung, frei von Verpflichtungen, frei von Verantwortung, frei von Bedürfnissen. Frei.
In meinem Traum dachte ich daran, wie unwohl ich mich als Mensch gefühlt hatte. Ich war so eingeschränkt, so beeinflusst, so abhängig gewesen. Alles hatte etwas gekostet, meist Geld oder Zeit oder auch Schmerz. Nirgendwo hatte ich hineingepasst. Ich hatte mich immer fehl am Platz gefühlt, ein Außenseiter, ein Andersdenker. Ich war so oft enttäuscht, so oft belogen, so oft verraten worden. Niemand hatte sich je für irgendetwas bedankt, sich je auch nur nach mir umgesehen. Es hatte weh getan! Es hatte furchtbar weh getan. Aber ich hatte nichts tun können. Ich war gefangen gewesen.
Jetzt nicht mehr. Jetzt war ich frei. Jetzt konnte ich hin, wo immer ich wollte. Jetzt konnte ich einfach fliegen, fliegen, fliegen. Ich musste gar nichts und ich musste auch nichts sein. Niemand erwartete etwas von mir. Ich war frei.
Es war auch in Ordnung, keinen Platz zu haben, wo man hingehörte. Als Vogel brauchte ich das nicht. Ich konnte immer wieder weiterziehen, immer wieder einen neuen Ort finden.
Ich flog über den See hinweg, in dem sich das heute wolkenlose Blau des Himmels spiegelte. Blau. Blau war schon immer meine Lieblingsfarbe gewesen, himmelblau. Seit ich denken kann, war es meine liebste Farbe. Und jetzt, als Vogel, war diese Farbe mein Zuhause, mein stetiger Begleiter.
Ich hatte doch einen Ort, an den ich gehörte. Vögel hatten einen Ort, an den sie gehörten. Es war der Himmel. Der Himmel war der Platz, wo ich hingehörte. Hoch oben am blauen Himmel, dort war mein Ort.
Nachdem ich aus dem Traum erwacht war, dachte ich immerzu daran, wenn ich hoch in den Himmel schaute. Egal, ob er grau von Wolken, rötlich von der Sonne oder schwarz von der Nacht war, dort gehörte ich hin. Doch am Stärksten war dieses Gefühl, wenn der Himmel klar war und in seiner schönsten Farbe, strahlendem Himmelblau erstrahlte.
Wenn der Himmel mir diese Farbe zeigte, fühlte ich mich geborgen und sicher und glücklich. Ich brauchte keinen Ort, an den ich gehörte. Nicht solange der blaue Himmel wieder hinter den Wolken hervorkam. Nicht solange ich träumen konnte, ich wäre ein Vogel und würde am Himmel wohnen.

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