Sonntag, 31. Mai 2015

52/52 Challenge: Jeden Tag aufs Neue

Und die Nr. 40.
Diese Kurzgeschichte ist mitten in der Nacht entstanden. Ich dachte, ich setzte mich mal mit meinem Block ans offene Fenster und zünde Kerzen an und schaue mal, was dabei herauskommt.
Viel Spaß beim Lesen. :)

Wort: Tag
Wörter: 699

Jeden Tag aufs Neue

Stell dir vor, du könntest dir jeden Morgen kurz vor dem Aufwachen aussuchen, was an dem Tag passieren soll. Du dürftest dir nicht wünschen, was passiert, nein. Aber du hättest eine Auswahl und könntest ganz frei entscheiden, was passieren soll. Wofür würdest du dich entscheiden?
Würdest du das gewöhnliche Leben eines einfachen Menschen leben? Würdest du dich für die verrückten, ungewöhnlichen Ereignisse entscheiden? Würdest du dich gegen eine Tragödie entscheiden? Würdest du dich für diesen einen Moment, der absolut alles ändert, entscheiden? Würdest du dich für den schönen, leichten Weg entscheiden? Oder würdest du auch schmerzhafte Dinge in Kauf nehmen? Würdest du dich für jeden Tag für etwas anderes entscheiden oder stets das selbe Leben wählen?
Stell dir vor, es wäre wirklich so und du würdest dich bloß nach dem Aufwachen nicht mehr daran erinnern und jede Nacht würdest du dich aufs Neue, ohne jegliches Vorwissen, entscheiden.
Könntest du diese Entscheidung treffen? Würdest du es wollen, diese Wahl? Oder würdest du lieber über jeden Moment einzeln frei bestimmen?
Ich kann euch sagen, dass es im Endeffekt fast egal ist. Ich habe mein Leben auf so viele unterschiedliche Weisen gesehen und kenne so viele verschiedene Möglichkeiten, so vielfältige Variationen, das ich beinahe vergesse, welches Leben ich tatsächlich lebe.
Seid froh. Seid froh, dass ihr nicht alles wisst und nicht alles sehen könnt. Seid froh, denn ihr würdet sonst immer wieder bereuen und wärt nie zufrieden. Ihr würdet stets denken, hätte ich mich doch anders entschieden! Ihr würdet stets grübeln, was anders wäre, wenn ihr einen anderen Weg gewählt hättet.
Mag sein, dass es verführerisch klingt, alle Türen offen stehen zu haben, alles tun zu können und das immer wieder aufs Neue. Aber letztendlich könntet ihr euch trotzdem immer nur für einen Weg entscheiden und ihr könntet nichts rückgängig machen.
Wäre es wirklich besser, alle Möglichkeiten für einen Tag zu kennen? Wäre es nicht am Ende nur hinderlich? Ich weiß es nicht.
Ich lebe das Leben, für das ich mich jeden Tag neu entscheide. Ich weiß, welches Leben ich auch leben könnte. Ich kenne alle Möglichkeiten und könnte jederzeit etwas ändern. Aber könnte das nicht jeder, wenn er es wirklich wollen würde?
Am Anfang war ich fasziniert und voller Begeisterung, als ich sah, was alles sein könnte und mir bewusst wurde, dass es allein in meinen Händen lag und viele Leute eine solche Chance nicht haben.
Heute bin ich abgestumpft und schon beinahe gelangweilt. Jeden Tag könnte ich etwas ändern, könnte alles ändern und ich tue es, weil es spannend ist, aber irgendwann ist mir die Freude daran vergangen. Ich begann mich zu fragen, ob ich ein Ziel habe und ob ich dieses mit all diesen Möglichkeiten vor Augen je würde erreichen können.
Manchmal schließe ich die Augen und wähle blind, weil es keinen Unterschied macht. Natürlich hat es Konsequenzen, so wie alles, aber am nächsten Tag kann ich wieder alles ändern und am Tag darauf wieder und wieder und wieder, bis zu dem Tag, an dem ich sterbe.
Bei denen, die vor dem Aufwachen nicht all diese Möglichkeiten sehen oder es danach wieder vergessen, ist es eigentlich genauso. Bloß wissen sie es nicht und sie sehen nie alles.
Ich beneide sie. Sie wissen noch, was eine wirkliche Entscheidung ist, was große Veränderungen sind, wie sehr Momente zählen. Ich habe das alles vergessen. Ich wünschte, ich könnte auch vergessen, dass ich all diese Möglichkeiten kenne oder zumindest herausfinden, was denn nun für mich der eine richtige Weg ist.
Doch wahrscheinlich ist genau das der Sinn, der hinter meiner Fähigkeit oder wie immer man es nennen mag, steckt. Es gibt ihn nicht, den einen Weg. Du kannst bloß einen Weg gehen, ja, aber du kannst diesen Weg immer wieder verändern, kannst abbiegen, noch einmal zurückgehen, rennen oder schleichen, was immer du willst. Es wird nicht aufhören, bis du stirbst.
Jeder Tag ist ein Neuanfang, eine neue Chance und das musst du nutzen. Nicht wie ich. Ich mache es falsch. Ich habe mich in all den Möglichkeiten verloren, sehe zu viel, denke zu viel. Vielleicht sollte ich auf mein Gefühl vertrauen, mir vor meinem Herzen den Weg weisen lassen. Vielleicht ist das der eine richtige Weg, auch wenn es den gar nicht gibt.

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