Samstag, 23. Mai 2015

52/52 Challenge: Der Traum von ewiger Nacht

Die Nr. 33. :)
Ebenfalls eine Fortsetzung und zwar zur Kurzgeschichte Die Nachtjägerin.
Viel Spaß beim Lesen. :)

Wort: Nacht
Wörter: 1521

Der Traum von ewiger Nacht

Sie saß auf einer Mauer. Vor ihr erstreckte sich die Stadt. Sie sah aus wie ein Meer aus Häusern, zwischen denen sich Straßen hindurchschlängelten wie kilometerlange Algen oder Aale. Die Aale hatten unzählige Augen, die Straßenlaternen, während nur in einigen Häusern noch einzelne Fenster erleuchtet waren.
Wenn die Straßen Aale oder Algen waren, waren die Häuser Steine in dem Meer, einige größer andere kleiner. Doch irgendwie wirkten sie eher wie Monster, die still auf ihren Einsatz warteten und wenn ein Fenster erleuchtet war, war das ein offenes Auge.
Sie schüttelte leicht mit dem Kopf. Was für absurde Gedanken. Besonders, da sie doch wusste, dass in der Dunkelheit der Nacht wahre Monster lauerten. Die Augen schließend atmete sie tief ein, fühlte sie Nacht. Das Blut in ihren Adern rauschte, ihr Herz schlug schneller. Sie war wach, bereit, lebendig. Die Nacht machte sie dazu. Durch das Nachtdämonenblut, das sie als kleines Kind zu sich genommen hatte, war sie selbst zu einem Teil der Nacht geworden.
Der schwarze Anhänger an ihrem Hals wurde warm. Kurz schloss sie die Faust um ihn und der vertraute, silberne Schleier legte sich über ihr Sichtfeld. Dadurch war es ihr möglich, all die Wesen der Nacht zu sehen und zu fühlen.
Sie hörte Schritte hinter sich. Dämonen hatten keine feste Gestalt, sondern konnten sich verwandeln, in was sie wollten, vorausgesetzt sie waren stark genug. Sich in einen Menschen zu verwandeln, war das Schwerste, was nur die Allermächtigsten beherrschten.
Der Nachtdämon hinter ihr war so jemand. Er besaß genug Macht, um die Gestalt eines Menschen anzunehmen. Genug Macht, um sogar fast vollkommen wie ein Mensch zu wirken. Als er sich neben ihr auf der Mauer niederließ, hätte selbst sie aus dem Augenwinkel denken können, er wäre ein Mensch und kein Nachtdämon.
Doch wenn sie auch nur ein bisschen genauer hinsah, erkannte sie die Anzeichen, die ihr schon von klein auf beigebracht worden waren. Die schattenhafte Aura, die große, tiefschwarzen Pupillen, die außer dem Weiß keine andere Augenfarbe zu ließen und einen leichten, schimmernden Schlitz in ihrer Mitte aufwiesen, ähnlich wie die Augen von Katzen. Außerdem konnten Menschen sie normalerweise nicht sehen oder fühlen. Es sei denn jemand verabreichte ihnen eine bestimmte Droge oder ein Nachtdämon berührte sie und zog sie somit auf die dunkle Seite.
„Wie ich sehe hast du tatsächlich auf mich gewartet, Nachtjägerin.“ Er lächelte, ohne sie anzusehen.
Sie presste die Lippen aufeinander und sagte nichts. Was sollte sie auch sagen? Schließlich hatte er in gewisser Weise recht.
„Solltest du nicht Nachtdämonen jagen? Deine Quote wurde doch sicherlich erhöht, oder? Wie hoch ist sie? 30 pro Nacht, 40?“ Er lachte leicht.
Sie spürte den Griff des Dolches in ihrer Hand, vertraut, aber kalt. Sie war kalt. Da war eine Kälte, eine Dunkelheit in ihr, die sie nicht zu überwinden vermochte und vielleicht wollte sie das auch gar nicht.
„Du hast es also endlich eingesehen. Du bist genauso ein Teil der Nacht, wie wir. Und du wünschst dir genauso die ewige Nacht, wie wir. Dann müsstest du nie mehr schlafen und hättest viel mehr Zeit. Und die Nachtdämonen? Die tun dir sowieso nichts, wenn du sie in Ruhe lässt. Wir sind ja schließlich vom selben Blut.“ Er lachte wieder, ein vergnügtes Lachen, das in der stillen Nacht widerhallte.
Analia senkte den Kopf und schwieg weiter. Zum wiederholten Mal stellte sie sich vor, wie es wäre. Wie es wäre, nie mehr müde zu sein. Nie mehr von der Sonne geblendet, vom Licht abgeschreckt und noch müder gemacht zu werden. Nie mehr störende Helligkeit. Nie mehr das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Nie mehr kämpfen. Endlich Frieden.
Ja, wenn ewige Nacht sein würde, wären die Tagdämonen besiegt und es würde keinen Krieg mehr zwischen Nacht- und Tagdämonen geben. Und die Menschen, die Menschen waren ja sowieso nur mit hineingezogen worden, weil sie als Werkzeuge dienten. Die Nachtdämonen hatten grundsätzlich absolut kein Interesse an den Menschen.
Hatte sie Interesse an den Menschen? Ein Bild von Rina blitzte in ihrem Kopf auf. Sie mochte Rina sehr. Sie waren irgendwie zusammen. Irgendwie... Es würde für Analia immer nur ein Irgendwie geben. Mit Max hatte sie es versucht. Sie hatte es wirklich versucht, aber es hatte nicht funktioniert. Sie konnte keine feste Beziehung mit einem Menschen führen, weil sie selbst nicht ganz ein Mensch war. Es würde niemals funktionieren.
Kurz dachte sie auch an ihren Zwillingsbruder Andrian. Er hatte damals Tagdämonenblut bekommen und war der Tagjäger. Er konnte sich unsichtbar machen, damit die Menschen ihn nicht sahen. Doch er fühlte sich lebendig im Licht, so wie die Menschen es taten. Während Analia stets vom Mond, den Sternen und der Dunkelheit angezogen wurde, wurde er von der Sonne und ihrem warmen Licht angezogen. Sie würde nie den Tag lieben und tagsüber leben können, niemals. Und wenn dieser Krieg ewig wüten würde, würde sie bis zu ihrem Lebensende Nachtdämonen jagen.
Das war einfach nicht das Leben, das sie wollte. Aber eigentlich wusste sie gar nicht so genau, was sie überhaupt wollte. Ewige Nacht, das klang sehr verlockend.

Das erste Tageslicht fiel durch das Fenster ihres Zimmers, als sie den Vorhang zuzog, damit ja kein Licht hinein kam. Sie wollte sich gerade umziehen, da wurde ihre Zimmertür aufgerissen. Rina würde so etwas niemals tun und Max hatte ihre Privatsphäre immer zu achten versucht, noch mehr seit sie nicht mehr zusammen waren. Also konnte es nur Andrian sein.
„Was willst du?“, fragte sie seufzend.
„Du hast heute Nacht keinen einzigen Nachtdämonen getötet!“, stieß er hervor.
„Na und“, meinte sie schulterzuckend.
„Na und!? Du weißt doch, dass das ein Ungleichgewicht bedeutet! Und wenn ich heute keinen Tagdämon töte, um das Gleichgewicht beizubehalten, wird das als Duldung eingestuft und das ist ein sehr schweres Vergehen!“
„Willst du mir jetzt einen Vortrag halten, oder was?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
„Willst du eine Abtrünnige werden, oder was?“, konterte er aufgebracht. Andrian war einer dieser pflichtbewussten Sorte. Nie würde er die Regeln biegen oder gar brechen und das Gleichgewicht, oh, das Gleichgewicht war das Allerheiligste.
„Lass mich einfach in Ruhe, okay?“, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu, um sich umziehen zu können.
„Das kann nicht dein Ernst sein!“ Eine Weile wartete er noch, ob sie noch etwas sagen oder tun würde, doch das passierte nicht. Daraufhin stürmte er aus dem Zimmer und knallte die Tür. Sie hörte ihn fluchend vor sich hinmurmeln.
Vielleicht hätte er nach dem Grund fragen sollten. Er hätte vielleicht eine Lösung gewusst oder Analia den Blödsinn, den sie dachte, ausreden können. Doch wie pflichtbewusst er auch war, er war auch sehr impulsiv.
Sie schlüpfte unter ihre Bettdecke und schloss die Augen. Die Erschöpfung, die jeder Tagesbruch mit sich brachte, ließ sie sehr schnell einschlafen.
Irgendwann wachte sie auf. Es war noch Tag, das spürte sie. Warum war sie dann aufgewacht? Weil sie jemanden mit sich im Raum, neben ihr im Bett gespürt hatte. Es war Rina, die völlig fertig aussah und schlief, als hätte sie es nächtelang nicht getan. Ihr Gesichtsausdruck war friedlich, entspannt.
Analia streckte eine Hand aus und berührte Rinas Wange, strich über ihre Haut. Diesen Frieden, den sie gerade in ihrem Gesicht sah, den wünschte sie sich auch. Wenn ewige Nacht einkehren würde, könnte sie ihn haben und zwar nur dort. Nur dort, denn dort gehörte sie hin, in die ewige Nacht.
Ob Rina sich dort auch wohl fühlen würde? Und warum schlief sie jetzt und nicht dann, wann sie es eigentlich als Mensch sollte?
Plötzlich blinzelte sie. Analia lächelte und legte ihre Hand ganz an Rinas Wange. „Hallo“, sagte sie amüsiert. „Hallo“, erwiderte Rina murmelnd und kuschelte sich dichter an Analia. „Schlafen wir noch etwas“, bat sie. Analia wollte fast lachen. Sollte das nicht ihr Satz sein?
„Natürlich. Aber musst du nicht in die Uni?“, fragte sie sanft und streichelte durch Rinas Haar. Sie hatte blonde Locken, die ihr bis zu den Schultern gingen. Sie sah damit aus wie ein Engel. Sie war ein Engel. Ein Engel, der sie aus unerklärlichen Gründen, sehr mochte.
„Sonntags hab ich keine Uni“, antwortete sie murmelnd. „Und ich war die ganze Nacht wach, um dich abzupassen, aber dann bin ich eingeschlafen. Ich hab mich erst vor zwei Stunden zu dir gelegt.“
„Okay. Okay, lass uns schlafen.“ Rina hatte ihre Augen vorher schon wieder geschlossen. Auch Analia schloss sie jetzt wieder, zog Rina aber noch ein kleines bisschen dichter an sich. Sie war so warm, so wunderbar warm. Eine Wärme, die Analia niemals besitzen würde.
Alles würde diese Wärme verlieren, wenn die Nachtdämonen die ewige Nacht heraufbeschworen. Nein, das war auch nicht das, was Analia wollte. Sie wollte... sein wie die Menschen. Ja, vielleicht war es das, was sie wollte. Menschen hatten ein so friedliches Leben. Sie mussten nicht losziehen und Dämonen töten. Sie konnten tun, was sie wollten. Ja, das wollte sie.
Aber das würde sie niemals haben können. Alles, was sie tun konnte, war dafür zu kämpfen, dass die Menschen diesen Frieden behielten, dass Rina diesen Frieden behielt.
Analia drückte einen Kuss auf Rinas Haaransatz. Ihr fiel auf, Rina war ihre Sonne. Niemand durfte diesem Mädchen ihre Wärme nehmen.

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